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Länger schon als andere Branchen nutzen Stromerzeuger und Netzbetreiber eine frühe Form des Datenraums. Doch mit dem Umbau des Energiemarkts stößt die alte Ordnung an ihre Grenzen. Die Domäne Energie des Gaia‑X Hub Deutschland sucht nach neuen Ansätzen für die datenbasierte Kooperation in einem komplexer werdenden Marktumfeld.
Erneuerbare treiben Bedarf nach datenbasierter Kooperation
Seit der Jahrtausendwende dürfen Kunden ihren Stromversorger selbst auswählen. Um die wachsende Zahl von Anbieterwechseln zu koordinieren, führte die Branche 2006 ein eigenes System für den automatischen Datenaustausch ein. Die sogenannte Marktkommunikation (MaKo) wickelt nicht nur Geschäftstransaktionen ab. Sie greift auch in die Fahrpläne von Kraftwerken ein, um Überlastungen im Stromnetz entgegenzuwirken. Vergleichbar mit einem Datenraum organisiert die MaKo den Datenaustausch zwischen den Marktteilnehmern durch feste Rollen sowie einheitliche Prozesse, Formate und Übertragungsregeln.
Heute, 25 Jahre nach der Marktliberalisierung, erzwingen erneuerbare Energien den zweiten großen Umbau des Strommarkts. Zehntausende Windräder, hunderttausende Batteriespeicher und Wärmepumpen und Millionen von Solarpanels und Elektroautos treiben den Koordinationsaufwand für das kleinteiliger werdende Geschäft in die Höhe. Wieder sind Daten der Schlüssel zu einer stabilen Versorgung – nur sehr viel mehr Daten und immer mehr davon in Echtzeit.
Bis 2021 beschränkten sich die Eingriffe in die Erzeugungsleistung auf knapp 700 Großkraftwerke. Heute muss die MaKo zusätzlich Daten von 100 000 Kraftwerken verarbeiten, die dezentral Strom aus Sonne, Wind und Biomasse erzeugen. Langfristig wird die Granularität noch um weitere Größenordnungen ansteigen: Dann muss die Energiewirtschaft viele Millionen Datenpunkte bis hinunter zur einzelnen Wärmepumpe bewältigen: Zu viel für einen Datenraum, in dem Informationen noch zu 98 Prozent über verschlüsselte E-Mails getauscht werden!
Lokale und regionale Energieversorger im Nachteil
Eines der Hauptprobleme stellen die hohen Fixkosten der bevorstehenden Transformation dar. Besonders kleine und mittelständische Versorger sind damit überfordert. Denn die Kosten für den laufenden Betrieb und für die technische Aufrüstung der MaKo verändern sich kaum mit der Unternehmensgröße. Ob Großversorger oder Stadtwerk: Die Rechnung fällt für alle in etwa gleich aus.
Das liegt unter anderem daran, dass Versorger die technische Infrastruktur für die MaKo in Eigenregie betreiben. Hohe Datenschutzhürden verhindern, dass Marktteilnehmer diesen Aufwand auslagern und MaKo-Dienste von Spezialisten beziehen können.
Die Folge sind vielerorts starre IT-Strukturen. Besonders kleine Versorger sind abhängig von wenigen Infrastruktur- und Software-Lieferanten. Was fehlt, ist ein breites Angebot an gleichwertigen und interoperablen IT- und Datendiensten. Stattdessen fürchtet die Branche, dass am Ende wieder nur die marktbeherrschenden Softwarehäuser und Plattformen profitieren und die technische Abhängigkeit im Zuge der weiteren Digitalisierung wächst.
Ökosystem für mehr Flexibilität und Innovation im Energiemarkt
Am Gaia-X Hub Deutschland suchen darum Versorger, Netzbetreiber, Forschungseinrichtungen und Dienstleister nach einer besseren Alternative. Unter dem Zusammenschluss der Domäne Energie wollen sie den Aufbau eines Datenraums und eines Datenökosystems für die Energiewirtschaft auf Basis von Gaia-X unterstützen.
Ihr Ziel: mehr Flexibilität und Innovationen bei digitalen Diensten für die Energiewirtschaft. Statt alles selbst zu machen, sollen vor allem kleinere Marktteilnehmer Infrastruktur-, Software- und Datendienste outsourcen und Lieferanten einfacher wechseln können. Das europäische Datenökosystem Gaia-X unterstützt dieses Vorhaben durch einheitliche Standards, Regeln und Prozesse für digitale Wertschöpfungsketten auf allen drei Ebenen datenbasierter Kooperation:
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- auf der Ebene der IT-Infrastruktur für Hard- und Software sowie Cloud-Dienste,
- auf der Ebene von Datenräumen und Datenkooperation
- sowie auf der gemeinsamen Ökosystem-Ebene unterschiedlicher Energie- und Datendienste.
Vorteile von Gaia-X für die Marktkommunikation
Mit Gaia-X will die Domäne die Voraussetzungen für transparente und zugleich leistungsfähigere Dateninfrastrukturen im Energiemarkt schaffen. Damit ließe sich nicht nur die Marktkommunikation an die gestiegene Komplexität anpassen, sondern auch der Kreis der technischen Zulieferer ausweiten. Denn Gaia-X garantiert, dass Dateneigner jederzeit die Hoheit über ihre Daten behalten. Das Outsourcing von MaKo-Diensten wäre somit rechtssicher möglich. Über vertrauenswürdige Dienstleister könnten Versorger und Netzbetreiber die Aufwände für die digitale Modernisierung auf weitere Schultern verteilen. Zugleich erhielten auch lokale Versorger und Stadtwerke eine betriebswirtschaftliche Perspektive in einem nachhaltigen Energiemarkt.
Neuer Markt für Datendienste in der Energiewirtschaft
Ein Datenökosystem auf Basis von Gaia-X bietet aber nicht nur Vorteile bei Kosten und Arbeitsteilung. Sicherer Datenaustausch mit anonymen Dritten, leistungsfähige Programmierschnittstellen und Künstliche Intelligenz schaffen die Voraussetzung für einen ganz neuen Markt datenbasierter Energiedienste.
In einem solchen Umfeld könnten Start-ups Verfahren zur Qualitätsprüfung abrechnungsrelevanter Daten aus intelligenten Stromzählern, sogenannten SmartMetern, entwickeln. Spezialisierte Softwarehäuser fänden einen Absatzmarkt für KI-Dienste, die zuverlässigere Prognosen für Netznutzungs- und Bilanzierungsprozesse errechnen.
Auch Stromkund:innen und lokale Ökostromproduzenten würden von besserem Service profitieren. Datendienste könnten beispielsweise den aktuellen Fortschritt bei einem Lieferantenwechsel überwachen und anzeigen. Stromproduktion und -verbrauch im eigenen Haushalt ließen sich durch Apps aufeinander abstimmen und hinsichtlich Kosten und CO2-Bilanz optimieren. Kund:innen könnten ihre Verbrauchsdaten Vergleichsportalen zeitweise zugänglich machen und sich optimale Marktpreise errechnen lassen.
Mehr betriebliche Resilienz
Der Aufbau eines Datenökosystems auf Basis von Gaia-X kann sogar einen Beitrag zur Versorgungssicherheit in Deutschland leisten: Um ihre Systeme flexibel an veränderte Marktbedingungen anzupassen und technische Probleme aufzufangen, benötigen Versorger und Netzbetreiber eine widerstandsfähige IT- und Dateninfrastruktur.
Ihr Vorteil: In Gaia-X-Datenräumen fließen nicht nur die Daten effizienter. Referenzarchitekturen, technische Standards und gemeinsame Regeln schaffen ein Ökosystem für Infrastruktur- und Datendienste, die untereinander interoperabel und somit austauschbar sind. Das reduziert die Abhängigkeit von einzelnen Technologieanbietern und erhöht insgesamt die betriebliche Resilienz des Energiesystems.
Mit Gaia-X kann endlich ein offener Markt für IT-Dienste entstehen mit mehr Wettbewerb und Wahlfreiheit für Unternehmen und Kund:innen, neuen Geschäftsmodellen, hoher Rechtssicherheit für alle Teilnehmer zu skalierbaren Kosten.
Anschlussfähigkeit an andere Branchen
Trotz eigener Regeln und Marktgesetze ist die digitalisierte Energiebranche keine geschlossene Veranstaltung. Das Energiesystem produziert immer mehr Daten, die auch für andere Branchen wertvoll sind. Vice versa profitieren Netzbetreiber und Versorger von Daten anderer Branchen wie dem Verkehrssektor, der Industrie oder digital vernetzten Gemeinwesen. Durch Offenheit und Interoperabilität können sich Gaia-X-Datenökosysteme branchenübergreifend als Motor für datenbasierte Wertschöpfung auszahlen und das Energiesystem effektiver mit anderen Sektoren vernetzen.
Weitere Details zu den Plänen der Domäne Energie am Gaia-X Hub Deutschland finden Sie im zugehörigen Positionspapier vom November 2023:
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Hier finden Sie das Positionspapier als PDF.
Verfasst von Oliver Warweg, Prof. Dr. Michael Laskowski und Thomas Sprenger