
Europas digitaler Rückstand und der Weg zur Datenwirtschaft
Stellen Sie sich vor, Sie befinden sich in einem Raum voller Schätze, aber die Türen sind fest verschlossen, und Sie haben keinen Schlüssel. Frustrierend, nicht wahr? Genau das erleben heute europäische Unternehmen: Sie erkennen allmählich den Wert ihrer Daten, können aber weder in vollem Umfang von ihnen profitieren noch sie mit anderen teilen. Warum ist das so? Und welche Auswirkungen hat das auf die digitale Zukunft Europas?
Das Paradox der ungenutzten Daten
Beginnen wir mit einer überraschenden Zahl: 80 % der Industriedaten in Europa bleiben ungenutzt. Das ist, als würden wir von fünf Goldminen vier unberührt lassen. Aber warum schöpfen Unternehmen dieses Potenzial nicht einmal annähernd aus?

- Rechtliche Bedenken: 58 % der Unternehmen zögern beim Datenteilen aufgrund rechtlicher Unsicherheiten.
- Technische Hürden: Für 33 % sind inkompatible Systeme ein Hindernis.
- Schutz von Geschäftsgeheimnissen: 21 % fürchten, sensible Informationen preiszugeben.
Diese Zahlen zeigen: Es mangelt nicht an Daten, sondern an Vertrauen und geeigneten Werkzeugen für den Austausch.
Doch selbst wenn Unternehmen, ebenso Forschungsinstitute, Vereine oder Behörden heute Daten mit Dritten teilen, sehen sie sich mit erheblichen Herausforderungen konfrontiert. Ein entscheidender Grund für ihr Zögern ist das Fehlen standardisierter und rechtssicherer Konzepte, die Datasharing auch für jene Organisationen in der EU praktikabel machen, die keine Abteilungen von Programmierern beschäftigen.
Angenommen, ein Unternehmen möchte mit zehn Partnern in seiner Lieferkette Daten austauschen. Das bedeutet zehn separate Verträge, in denen Systemanforderungen, Datenformate, Nutzungsarten und Zugangsrechte im Detail festgelegt werden müssen. Hinzu kommt die Programmierung und Pflege von möglicherweise proprietären Schnittstellen an jedem Endpunkt des Datenaustauschs. Es ist, als müsste man für jede neue Geschäftsbeziehung eine eigene Sprache erfinden und lernen.
Diese Komplexität hat weitreichende Folgen:
- Sie hemmt die Agilität von Unternehmen, die sich dem digitalen Wandel ihrer Branche und ihrer Märkte stellen müssen.
- Sie treibt die Transaktionskosten für die entstehende Datenwirtschaft in die Höhe – oder verhindert ihr Entstehen ganz.
- Sie benachteiligt vor allem kleine und mittelständische Unternehmen, die vor den bürokratischen und technischen Anforderungen zurückschrecken.
Das Ergebnis? Ein Teufelskreis aus Zurückhaltung und verpassten Chancen. Unternehmen, die den Datenaustausch scheuen, entgehen Innovationsmöglichkeiten. Gleichzeitig fehlt durch mangelnde Beteiligung die kritische Masse und der Druck im Markt, damit effizientere Lösungen entstehen.
Der Preis der digitalen Zurückhaltung
Doch was kostet uns diese Zurückhaltung? Lassen Sie uns einen Blick auf die globale Datenwirtschaft werfen:

Region | Anteil am Unternehmenswert von Digitalplattformen |
USA | 67 % |
Asien-Pazifik | 29 % |
EU | 3 % |
Afrika | 2 % |
Diese Tabelle zeigt: Europa, einst Vorreiter der industriellen Revolution, droht im digitalen Zeitalter von den USA und Asien beim Thema Datenwertschöpfung abgehängt zu werden.
Zahlen der UN-Konferenz für Handel und Entwicklung liefern ein ähnliches Bild. Danach vereinen allein die Vereinigten Staaten und China 90 % der Marktkapitalisierung bei Digitalplattformen, 94 % des Investorenkapitals für KI-Start-ups und die Hälfte aller großen Cloud-Rechenzentren.
Aber warum ist Datenaustausch überhaupt so wichtig?
Kollaboration: Der Schlüssel zum digitalen Wachstum
Stellen Sie sich ein Puzzle vor. Jedes Unternehmen besitzt einige Teile, aber erst zusammengesetzt ergibt sich das große Bild. Genauso verhält es sich mit Daten in der digitalen Wirtschaft. Ein Beispiel:
> Ein Maschinenbauer will seine Produkte mit digitalen Diensten ergänzen, um die Fertigung effizienter und nachhaltiger zu gestalten. Dazu zählen Dienste, die Maschinen besser auslasten und Wartungsarbeiten vorausschauend planen. Dafür muss das Unternehmen Echtzeitdaten aus der eigenen Fertigung mit denen von Zulieferern und Kunden rechtssicher kombinieren. So lassen sich Standzeiten frühzeitig erkennen, Wartungsintervalle besser abstimmen und zusätzliche Kapazitäten für externe Aufträge einplanen. Das Projekt EuProGigant hat gezeigt, wie man solche Daten sicher zusammenführt, um Produktionsprozesse zu optimieren und sensible Informationen zu schützen.
Dieses Szenario verdeutlicht: In der vernetzten Wirtschaft des 21. Jahrhunderts handelt kein Unternehmen isoliert. Der Erfolg hängt zunehmend von der Fähigkeit ab, Daten auszutauschen und gemeinsam zu nutzen.
Die Dringlichkeit dieser Entwicklung wird durch zwei aktuelle Trends verstärkt: Den Boom bei Künstlicher Intelligenz und das explosionsartige Wachstum des Internets der Dinge (IoT). Große KI-basierte Sprachmodelle, die derzeit die Wirtschaft revolutionieren, benötigen enorme Datenmengen zum Training. Gleichzeitig erzeugen Milliarden vernetzter IoT-Geräte in der Industrie einen nie dagewesenen Datenstrom. Expert:innen sagen voraus, dass sich die Zahl dieser Geräte bis 2030 mehr als verdoppeln wird.
Diese Entwicklung birgt immenses Potenzial: Eine Studie des Europäischen Parlaments schätzt, dass intelligente Automatisierung und KI das jährliche Wirtschaftswachstum in entwickelten Ländern bis 2035 verdoppeln könnten. Doch dazu müssen Unternehmen lernen, ihre Daten effektiv zu teilen und kollaborativ zu nutzen.
Der Weg dorthin ist mit Stolpersteinen gepflastert. Wie können Unternehmen sicher und vertrauensvoll zusammenarbeiten, ohne sensible Informationen preiszugeben? Wie lassen sich Daten aus unterschiedlichen Quellen und Formaten sinnvoll zusammenführen? Und wie stellen wir sicher, dass alle Beteiligten auf faire Weise an der Wertschöpfung teilhaben?
Antworten auf diese Fragen entscheiden über die Zukunft der europäischen Wirtschaft im digitalen Zeitalter. Im nächsten Abschnitt werden wir uns ansehen, welche konkreten Schritte bereits unternommen werden, um diese Herausforderungen zu meistern.
Der regulatorische Druck steigt
Die Europäische Union hat die Bedeutung des Datenaustausches erkannt und reagiert mit entsprechenden Gesetzen. Der EU Data Act, der ab September 2025 gilt, regelt den Zugang und die Nutzung von Daten in bestimmten Fällen, etwa zwischen Unternehmen, Verbrauchern und öffentlichen Stellen. Dabei werden klare Rahmenbedingungen für faire Datennutzung und Interoperabilität geschaffen.
Doch was bedeutet das konkret für Sie als Unternehmer:in oder Manager:in?
> Lassen Sie uns annehmen, Sie produzieren intelligente Haushaltsgeräte. Ab 2025 müssen Sie:
- Nutzungsdaten Ihrer Geräte der Kundschaft direkt zur Verfügung stellen.
- Dritten den Zugang zu diesen Daten ermöglichen, wenn der Kunde zustimmt.
- Sicherstellen, dass Ihre Daten in interoperablen Formaten vorliegen.
Diese Anforderungen klingen zunächst nach zusätzlichem Aufwand. Doch sie bieten auch Chancen: Stellen Sie sich vor, wie viele innovative Dienste entstehen könnten, wenn Entwicklungsteams etwa Zugriff auf anonymisierte Nutzungsdaten von Millionen Haushaltsgeräten hätten!
Das Dilemma der digitalen Plattformen
Nun fragen Sie sich vielleicht: „Warum nicht einfach alle Daten auf einer zentralen Cloud-Plattform sammeln?“ Hier kommen wir zum Kern des europäischen Datendilemmas.
Große digitale Plattformen, oft aus den USA oder China, haben gezeigt, wie effektiv zentralisierte Datensammlungen sein können. Doch sie werfen auch Probleme auf:
- Datenschutzbedenken: Wer kontrolliert die gesammelten Informationen?
- Wettbewerbsverzerrungen: Unternehmen, die Plattformen betreiben, können unfaire Vorteile erlangen.
- Abhängigkeiten: Unternehmen riskieren, von einzelnen Anbietern abhängig zu werden („Lock-In-Effekt“).
Ein Beispiel verdeutlicht das Problem:
> Ein mittelständisches Maschinenbauunternehmen analysiert Produktionsdaten über die Dienste einer großen Cloud-Plattform. Um deren Schnittstellen nutzen zu können, hat es die Betriebstechnik in aufwendigen IT-Projekten auf das proprietäre Protokoll des Anbieters umgestellt. Doch neue Datenschutzregeln, geänderte Produktionsanforderungen und ein überarbeitetes Preismodell der Plattform setzen das Unternehmen unter Druck: Die Kosten steigen, neue Anwendungen lassen sich auf der bestehenden Plattform weder rechtssicher noch effizient umsetzen, und eine erneute technische Umstellung oder ein Wechsel des Cloud-Anbieters würden enorme Investitionen erfordern.
Dieses Szenario zeigt, warum viele europäische Unternehmen berechtigterweise zögern, datenbasierte Services auf zentralisierten Plattformen zu entwickeln.
Der Weg nach vorn: Europas Alternative
Wir stehen vor einem Dilemma: Einerseits treibt Datenaustausch Innovation und Wettbewerbsfähigkeit an. Andererseits schaffen zentrale Plattformen Abhängigkeiten und gefährden Datenschutz sowie fairen Wettbewerb.
Wie könnte eine europäische Lösung aussehen, die:
- den Datenaustausch fördert,
- den Datenschutz rechtlich absichert,
- die Kontrolle bei den Dateneigentümern belässt
- und Abhängigkeiten von Technologieanbietern verringert?
Die Antwort auf diese Frage könnte die Zukunft der europäischen Digitalwirtschaft prägen. Im nächsten Kapitel zeigen wir, wie das Konzept der „Datenräume“ diese Herausforderung meistert und warum es Europas Schlüssel zum Datenzeitalter sein könnte.
Was meinen Sie? Welche Erfahrungen haben Sie in Ihrem Unternehmen mit Datenaustausch gemacht?
Quellen
Bitkom: Presseinformation. Deutsche Unternehmen nutzen ihre Daten kaum, 2024, https://www.bitkom.org/Presse/Presseinformation/Deutsche-Unternehmen-nutzen-ihre-Daten-kaum
Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI): Internet der Dinge, https://www.bsi.bund.de/DE/Themen/Verbraucherinnen-und-Verbraucher/Informationen-und-Empfehlungen/Internet-der-Dinge-Smart-leben/internet-der-dinge-smart-leben_node.html
Europäische Kommission: Results of the European Data Market study 2021-2023, https://digital-strategy.ec.europa.eu/en/library/results-european-data-market-study-2021-2023
Europäische Kommission: Datengesetz (Data Act), 2024, https://digital-strategy.ec.europa.eu/de/policies/data-act
Europäisches Parlament: Economic impacts of artificial intelligence (AI), 2019, https://www.europarl.europa.eu/RegData/etudes/BRIE/2019/637967/EPRS_BRI(2019)637967_EN.pdf
EuProGigant: Projekt-Website, https://euprogigant.com
Institut der deutschen Wirtschaft (iW): Datenwirtschaft in Deutschland. Wo stehen die Unternehmen in der Datennutzung und was sind ihre größten Hemmnisse?, 2021, https://www.iwkoeln.de/studien/klaus-heiner-roehl-lennart-bolwin-wo-stehen-die-unternehmen-in-der-datennutzung-und-was-sind-ihre-groessten-hemmnisse.html
Institut der deutschen Wirtschaft (iW): Data Sharing in Deutschland, 2023, https://www.iwkoeln.de/studien/jan-buechel-barbara-engels-data-sharing-in-deutschland.html
Gaia-X Hub Deutschland: Schluss mit Datensilos: Der EU Data Act erzwingt digitale Öffnung, 2025, https://gaia-x-hub.de/gx-praxis/schluss-mit-datensilos-der-eu-data-act-erzwingt-digitale-oeffnung/
Gaia-X Hub Deutschland: Der Data Act: Pflichten zum Data Sharing, 2025, https://gaia-x-hub.de/gx-praxis/der-data-act-pflichten-zum-data-sharing/
IoT Analytics: State of IoT 2024: Number of connected IoT devices growing 13% to 18.8 billion globally, 2024, https://iot-analytics.com/wp/wp-content/uploads/2024/09/INSIGHTS-RELEASE-Number-of-connected-IoT-devices-vf.pdf
Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung: Digital Economy Report 2021, https://unctad.org/page/digital-economy-report-2021
Midrange: Quo Vadis Gaia-XDatenökosysteme: Schlüssel zur Umsetzung des EU Data Acts – Teil 1, 2024, https://midrange.de/datenoekosysteme-schluessel-zur-umsetzung-des-eu-data-acts-teil-1/
Schmidt, Holger Dr. (Netzökonom): Künstliche Intelligenz, Plattform-Ökonomie. KI treibt Plattformunternehmen auf neue Höchststände, 03.01.2025, https://www.netzoekonom.de/2025/01/03/kuenstliche-intelligenz-treibt-plattformunternehmen-auf-neue-hoechststaende/