Kurs 3: Datenräume in der Praxis

Anwendungsfall Industrie

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Das Leuchtturmprojekt EuProGigant steht für eine neue Generation digitaler Kooperation in der europäischen Industrie. Es zielt darauf ab, den Datenaustausch über Länder- und Branchengrenzen hinweg zu vereinfachen und dabei die Prinzipien von Gaia-X – Dezentralität, Datensouveränität und Vertrauen – konsequent umzusetzen. Die Fertigungsindustrie wird zunehmend vernetzt, automatisiert und von Daten durchdrungen – insbesondere die Nutzung von Künstlicher Intelligenz wird eine immer größere Rolle spielen. Obwohl bereits heute eine enorme Menge an Daten in Produktionsprozessen erhoben wird, findet der Austausch und die effektive Nutzung dieser Daten nur unzureichend statt. Herausforderungen wie steigende Komplexität, Produktindividualisierung und globale Lieferketten erfordern jedoch einen umfassenden Datenaustausch. EuProGigant zeigt, wie durch gezielten und sicheren Daten­austausch entlang der gesamten Wertschöpfungskette innovative Lösungen entwickelt werden können, die sowohl Effizienz als auch Nachhaltigkeit steigern und neue Geschäftsmodelle ermöglichen. Das von Österreich und Deutschland geförderte Projekt hat ein dynamisches Ökosystem geschaffen, in dem Unternehmen, Forschungseinrichtungen und Technologieanbieter gemeinsam an Lösungen arbeiten, die in den Alltag der Produktion und Entwicklung hineinwirken.

Was bedeutet das für die Praxis?

Das Projekt zeigt, wie ein Datenraum als sichere Brücke zwischen den Beteiligten funktioniert. Jeder Teilnehmende legt selbst fest, welche Daten er oder sie teilt. EuProGigant setzt damit einen Standard, der über die Fertigung hinaus, zum Beispiel auch für Logistik, Energie oder Luftfahrt, funktioniert. Der Datenaustausch erfolgt direkt, ohne dritte Partei, was den administrativen Aufwand minimiert und die Kontrolle über die eigenen Daten deutlich stärkt. Die Philosophie ist klar: Dezentralität und Einfachheit sind die Basis für nachhaltige Kooperation und Wertschöpfung in digitalen Netzwerken.

Im Bereich der Fertigungsindustrie verfolgt EuProGigant zwei Ziele: Zum einen entwickelt EuProGigant die Gaia-X-Architektur weiter, um sie an die spezifischen Anforderungen der Fertigungsindustrie anzupassen. Zum anderen demonstriert das Projekt anhand konkreter Anwendungsfälle, wie im realen Betrieb Mehrwerte durch die Nutzung und Austausch von Daten entstehen. Hierbei werden nicht nur technische Mehrwerte geschaffen, wie Datensicherheit oder die Interoperabilität zwischen unterschiedlichen IT-Systemen. Auch die wirtschaftliche Dimension ist zentral: Als Datenprovider können Unternehmen neue Umsatzpotenziale erschließen, indem sie beispielsweise Daten monetarisieren, die bislang ungenutzt blieben. Umgekehrt profitieren Datenkonsumenten von Effizienzgewinnen – etwa durch optimierte Materialauswahl oder verbesserte Prozesse, die auf Echtzeitdaten aus dem Netzwerk basieren.

Die Entwicklung der technischen Infrastruktur orientiert sich an praxisnahen Anforderungen und geht über den Gaia-X-Rahmen hinaus. Im Zentrum von EuProGigant stehen vier Anwendungsfälle, die sich mit zentralen Herausforderungen im Produktionsalltag beschäftigen:

  • Der Anwendungsfall „CO₂-Fußabdruck in der Produktentstehung“ ermöglicht es Unternehmen, den klimarelevanten Fußabdruck ihrer Produkte schon in der Designphase transparent zu bewerten und zu optimieren.
  • Der Anwendungsfall „Mobile Bearbeitungsmaschinen“ zeigt, wie Maschinen und Robotersysteme flexibel und ortsunabhängig für Wartung, Instandhaltung oder Produktion eingesetzt werden und große Datenmengen sicher sowie drahtlos an verschiedene Standorte in Echtzeit übertragen, wodurch neue digitale Services und autonome Prozesse ermöglicht werden.
  • Der Anwendungsfall „Ideales Bauteilmatching“ automatisiert das passgenaue Zusammenführen von Komponenten, indem Messdaten aus verschiedenen Unternehmen sicher ausgetauscht und intelligent ausgewertet werden, wodurch Montageaufwand, Nacharbeit, Ausschuss und Ressourcenverschwendung in der Produktion deutlich reduziert werden.
  • Der Anwendungsfall „Validierungsplattform“ ermöglicht innerhalb des EuProGigant-Projekts den sicheren und souveränen Austausch von Echtzeit-Produktions- und Prüfstandsdaten über digitale Zwillinge, wodurch Abweichungen in Produktion und Produkten frühzeitig erkannt und gemeinsam mit Partnern entlang der Wertschöpfungskette effizient validiert werden können.

Anwendungsfall “CO2-Fußabdruck in der Produktentstehung”

Werfen wir einen genauen Blick auf den Anwendungsfall „CO2-Fußabdruck in der Produktentstehung“. Hier stehen Klimaschutz und der Wandel zu nachhaltigen Lieferketten im Fokus. Der Druck auf Unternehmen wächst, den CO₂-Ausstoß transparent zu machen und zu reduzieren. Das liegt nicht nur an den neuen gesetzlichen Vorgaben, sondern auch an den steigenden Anforderungen und Erwartungen von Kunden und Partnern. Viele klassische Ansätze zur Emissionsminderung konzentrieren sich auf die Energieversorgung oder Optimierung der Maschinen. Doch der größte Hebel liegt oft unerkannt direkt in der Produktentstehung: Schon in der Designphase werden bis zu 80 Prozent der gesamten Emissionen eines Produkts festgelegt. Die Herausforderung besteht darin, diese Daten frühzeitig zu erfassen und sinnvoll in den Entwicklungsprozess einzubinden.

EuProGigant greift diese Herausforderung gezielt auf. Ein intelligentes, digital vernetztes Produktionsökosystem soll es Ingenieur:innen und Entwickler:innen ermöglichen, schon im Stadium der Produktentwicklung geeignete Werkstoffe und Verfahren nach ihrem CO₂-Fußabdruck auszuwählen und miteinander zu vergleichen. Über eine webbasierte Anwendung können Nutzende schon vor Fertigungsbeginn verschiedene Alternativen simulieren. Komplexe Algorithmen prüfen jede Bauteilvariante und berechnen automatisch den prognostizierten Ausstoß an Treibhausgasen. So werden Designentscheidungen unmittelbar an ökologische Kriterien gekoppelt, ohne die Alltagstauglichkeit aus den Augen zu verlieren.

Lösungsansatz- und Komponenten

Herzstück des Ansatzes ist ein dezentrales, souveränes Datenökosystem, über das Material- und Prozessdaten sowie Berechnungsdaten für Industrie und Forschung bereitstellt werden können. Sowohl KMU als auch Großkonzerne können somit sensible Daten kontrolliert und sicher austauschen. Material- und Laboranbieter stellen ihre Kennwerte zur lizenzierten Nutzung bereit – und erschließen so neue, datenbasierte Geschäftsmodelle. Die Wissensdatenbank zeigt zudem, wie Wissen entlang der Wertschöpfungskette handelbar wird: Durch standardisierte Schnittstellen können Anbieter ihre Werkstoffdaten kostenpflichtig bereitstellen, während Hersteller und Nutzer von Maschinen direkt Zugang zu relevanten Informationen für grüne Produktionsprozesse erhalten.

Konsortialpartner und ihre Rollen im Anwendungsfall

Die federführende Rolle bei der Koordination und Umsetzung des Projekts EuProGigant ist dem European Institute of Innovation and Technology (EIT) Manufacturing zugeordnet, das als Konsortialführer die Verbindung zwischen Forschung und Industrie sowie die strategische Steuerung sicherstellt. EIT Manufacturing bündelt das große europäische Netzwerk im Bereich Produktion und bringt Expertise zur Entwicklung nachhaltiger, datengetriebener Geschäftsmodelle ein.

Zu den wichtigsten Partnern zählen unter anderem die Technische Universität Wien (TU Wien) und die Technische Universität Darmstadt, die federführend die wissenschaftliche und technische Entwicklung von Emissionsprognosemodellen betreiben. Die Firma concircle Österreich GmbH stellt als Softwareunternehmen wichtige digitale Plattformen und Schnittstellen bereit, die es ermöglichen, unterschiedliche Datenquellen sicher zu integrieren und die Interoperabilität im Datenraum gemäß Gaia-X Standards zu gewährleisten. Dazu gehört auch die technische Implementierung von Datenkonnektoren und die Sicherstellung der Compliance mit dem Gaia-X Trust Framework. Darüber hinaus liefert die Haidlmair GmbH als Industriepartner prozessnahe Daten aus der Fertigung und unterstützt damit die Praxisrelevanz und Anwendbarkeit der entwickelten Lösungen. Voestalpine High Performance Metals GmbH bringt Materialdaten ein, die essenziell sind für die präzise Bewertung des CO2-Fußabdrucks verschiedener Werkstoffe und Fertigungsverfahren. Weitere Partner wie die Arburg GmbH + Co KG und die SIMCON kunststofftechnische Software GmbH ergänzen mit ihren Kompetenzen in der Kunststoffverarbeitung und Simulation die Wertschöpfungskette des Projekts.

Gemeinsam bilden diese Konsortialpartner ein interdisziplinäres Netzwerk, das sowohl die industrielle Praxis als auch die technologische und wissenschaftliche Entwicklung vereint. Durch diese starke Zusammenarbeit gewährleisten sie, dass der Anwendungsfall nicht nur technisch fundiert umgesetzt wird, sondern auch einen echten Mehrwert für KMU und Großunternehmen schafft, indem er ihnen den Zugang zu validen CO₂- -Daten und effizienten Tools für nachhaltige Produktentwicklung ermöglicht.

Mehrwerte für KMU

Besonders KMU profitieren von dieser Lösung. Sie erhalten Zugang zu validierten CO₂- und Energiedaten, ohne in eigene teure IT-Entwicklung investieren zu müssen. Die Lösung erhöht die Transparenz und das Vertrauen entlang der gesamten Lieferkette. Sie hilft Unternehmen, regulatorische Anforderungen wie das Lieferkettengesetz effektiv zu erfüllen. Durch standardisierte Schnittstellen bleibt die Kontrolle stets bei den Dateneigentümer:innen, während neue Services, wie automatisierte CO₂-Bilanzierungen, erstmals nach Gaia-X standardisiert möglich werden. Für viele Unternehmen eröffnet sich damit die Option, nicht nur die eigene Produktion effizienter und nachhaltiger zu gestalten, sondern diese Fortschritte auch glaubhaft gegenüber Auftraggebern, Kunden und Partnern zu dokumentieren.

Ausblick

Das Projekt EuProGigant wurde nach vier Jahren Laufzeit im Februar 2025 erfolgreich abgeschlossen und wird nun schrittweise auf weitere Bereiche der industriellen Forschung und neue Materialien ausgeweitet. Der aktuelle Stand der Forschung umfasst die Entwicklung von Industriestandards für die hochfrequente und kostengünstige Datenerfassung, den Rollout von sogenannten Smart Integrated Devices für die Erschließung neuer Datenquellen sowie die weitere Übertragung der Gaia-X-Architektur auf reale Produktionsumgebungen.

Weiterführende Informationen und Teilnahmemöglichkeiten

Unternehmen können sich in EuProGigant auf vielfältige Weise engagieren, etwa als aktiver Teilnehmer im Industrieausschuss, als Technologieanbieter oder durch Mitgestaltung von Geschäftsmodellen. Zusätzlich besteht die Möglichkeit, Produkte vorzustellen und Kooperationen mit bestehenden Projekten zu vertiefen. Interessenten sind eingeladen, Kontakt mit dem Projektteam aufzunehmen, um die passende Beteiligungsform zu finden und zur Entwicklung der Produktion der Zukunft beizutragen.

Alle wichtigen Informationen, Studien und Leitfäden finden sich auf dem EuProGigant-Projektportal sowie in den Publikationen des Konsortiums.

Fazit

EuProGigant zeigt eindrucksvoll, wie digitale Kooperation in der europäischen Industrie durch sichere und souveräne Datenräume gelingen kann. Das Projekt demonstriert die praktischen Vorteile von Gaia-X-Prinzipien wie Dezentralität und Datensouveränität für eine vernetzte, nachhaltige und effiziente Produktion. Mit realen Anwendungsfällen, etwa zur CO₂-Bilanzierung oder zum Bauteilmatching, werden technische und wirtschaftliche Mehrwerte geschaffen, die neue Geschäftsmodelle ermöglichen. Durch die Integration von Forschung, Industrie und Technologieanbietern entsteht ein dynamisches Ökosystem für die Industrie der Zukunft.

Quellen

EuProGigant: Anwendungen. Verfügbar unter: https://euprogigant.com/anwendungen/

EuProGigant. (2023). Digitaler Wegweiser für grünes Produktdesign. Verfügbar unter: https://euprogigant.com/wp-content/uploads/2023/05/EuProGigant_Digitaler-Wegweiser-fuer-gruenes-Produktdesign.pdf

EuProGigant & EuProGigant-Theia (2023). Smarte und souveräne Nutzung von Daten für die Produktion. European Digital Innovation Hub AI5production. Verfügbar unter: https://ai5production.at/wp-content/uploads/2023/05/Leitprojekt-EuProGigant-EuProGigant-Theia.pdf

Hoffmann, F., Koch, T., Weigold, M., & Metternich, J. (2023). A data-based business concept to support product creation in reducing greenhouse gas emissions. Procedia CIRP, 56th CIRP Conference on Manufacturing Systems. Verfügbar unter: https://euprogigant.com/wp-content/uploads/2024/01/Hoffmann_2023_A-data-based-business-concept-to-support-product-creation-in-reducing-greenhouse-gas-emissions.pdf

Hoffmann, F., Koch, T., Weber, M., Weigold, M., & Metternich, J. (2023). Development of Data-based Business Models to Incentivise Sustainability in Industrial Production. 4th Conference on Production Systems and Logistics (CPSL). Verfügbar unter: https://euprogigant.com/wp-content/uploads/2024/01/Hoffmann_2023_CPSL-Development_of_Data-based_Business_Models_25_05_2023.pdf

Hoffmann, F., Mitrovic, M., Niebel, C., & Reiberg, A. (2024). Gaia-X und Geschäftsmodelle: EuProGigant als Fallbeispiel für Industrie 4.0. Gaia-X Hub Deutschland. White Paper 2/2024. Verfügbar unter: https://gaia-x-hub.de/wp-content/uploads/2024/11/EuProGigant-11.11.24_GXBM_FINAL.pdf